Schwester Erika packt aus

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Erika ist gut in ihrem Job. Sie macht ihn auch schon seit 15 Jahren. Wenn sie morgens um 5.30 Uhr auf den Parkplatz der großen Klinik mitten in der Oberpfalz einbiegt, hat sie dennoch Angst vor dem bevorstehenden Dienst. Schon die Nacht über hat sie schlecht geschlafen. Und viele Nächte zuvor. Sie weiß: trotz aller Erfahrung und ihres großen Talents für den Beruf der Krankenschwester steht sie vor einer schier unlösbaren Aufgabe.

 

„Du löst die Probleme dann halt doch irgendwie. Und bist Dir aber nie sicher, ob es auch morgen wieder hinhaut. Oder ob es zu einer großen Katastrophe kommt. Das schlaucht Dich einfach. Du schaltest keine Minute mehr ab, auch nicht nach Feierabend“, sagt Erika. Und erzählt von diesem Frühdienst. Stichpunktartig, im Stakkato. Wie gehetzt, auf der Flucht. Wir sitzen in einem kleinen Café, Erika rührt in der Tasse. Immer wieder blickt sie sich um – was sie mir jetzt aus ihrem Berufsalltag erzählen wird, kann sie den Kopf kosten. Wenn ihre Vorgesetzten erfahren, wer da „geplaudert“ hat.

Zwölf geriatrische Menschen warten morgens auf Erika. Die Begrüßung verkommt zum stereotypen, hastigen Ritual. Waschen, mobilisieren, anziehen. Die Uhr tickt. In 45 Minuten kommt das Frühstück, dann müssen alle fertig sein. „Du läufst und läufst und läufst, aber die Uhr ist immer schneller.“ Erika wirkt müde. Die Ganzkörperpflege, die eigentlich angesagt wäre, ist in diesem Rahmen nicht möglich. „Du kaschierst das bei den Patienten mit Humor. Du sagst: Wir waschen heute nur die beiden Gesichter, sonst werden wir nicht fertig. Mundpflege oder Intimpflege nach geltenden Pflegestandards: Das geht nur in Ausnahmefällen.“ Hände desinfizieren? Nur wenn Zeit dafür ist...

Wenn Erika oder ihre Kolleginnen infektiöse Patienten versorgen müssen, sind sie dazu angehalten, hygienische Schutzkleidung anzulegen. „Machen wir nicht immer, dauert zu lange“, sagt Erika, die in Wirklichkeit anders heißt. Die Klinikleitung weiß Bescheid, inoffiziell zumindest, kümmert sich aber nicht darum, solange der Laden läuft und die Zahlen stimmen.

Wer ständig in einem pflegenden Beruf überfordert wird, der entwickelt zwangsläufig entweder Groll auf seine Schützlinge oder schlechtes Gewissen ihnen gegenüber – weil der helfende Mensch dazu neigt, die Schuld bei sich zu suchen. Erika gehört zu Letzteren. Schuldig fühlt sie sich auch gegenüber den Auszubildenden. „Die Uhr tickt. Statt den Azubis ordentlich etwas zu erklären, sagst Du einfach: Das schaffst Du schon, und lässt sie machen, sprichst ein stummes Gebet, dass nichts schief geht.“

Herr Mayer (Name geändert) sitzt halbnackt am Waschbecken, als Erika von ihrer Kollegin zu Hilfe gerufen wird. 20 Minuten sind die beiden Schwestern mit Hochdruck mit einer Patientin beschäftigt, die unter schwerer Demenz leidet. Wie Herr Mayer auch. Als Erika zurück kommt, sitzt er Gottseidank noch vor dem Waschbecken. Nun hofft sie, dass sich der alte Mann selbst gewaschen hat. Wissen kann sie es nicht. Herr Mayer hat das längst vergessen.

Die Dauerbelastung führt Fehler herbei. „Medikamenteneingabe! Vergessen!“, saust es durch Erikas Kopf. Der Laufschritt ist die normale Fortbewegungsart. Personal fehlt an allen Ecken und Enden. Erika hat genug und schreibt einen Versetzungsantrag, da Sie hofft es wird in einer anderen Abteilung besser.

Jetzt gehört zu ihrer Schicht die Betreuung von vier Intensiv- und zehn weiteren Patienten. Erika müsste bei denen jetzt Vitalzeichen messen. Keine Zeit. Ebenso wenig wie für die ärztlichen Anordnungen aus der Visite. Darum wird sich der Nachtdienst kümmern müssen. Dadurch verzögern sich die medizinischen Maßnahmen um einen Tag. Erika klingt immer schuldbewusster. Obwohl die intelligente junge Frau weiß: Es liegt ja nicht an ihr. Es liegt daran, dass die Krankenhäuser zu wenige wie sie beschäftigen.

Der Mangel geht zu ihren Lasten, er geht aber auch zu Lasten der Patientenversorgung. „Pillen, die sie nüchtern nehmen sollten, werden ihnen von uns gesammelt mit anderen Tabletten nach dem Frühstück verabreicht – so geht das schneller“, sagt die Schwester. Schmerzmittel vor Verbandswechsel? „Geben wir nicht, weil wir keine Zeit haben zu warten, ehe die Wirkung eintritt“. Erika hat sich jetzt in Rage geredet. Sie schaut sich auch seltener um in dem Café.

Sie geht generell lieber in den Spät- als in den Frühdienst und nimmt in Kauf weniger Zeit mit ihrer Tochter zu haben.Aber auch dort zwingt der akute Mangel an Pflegekräften zu faulen Kompromissen. „Aber morgens ist bei mir das Gefühl der Hilflosigkeit größer“, sagt sie. Abends bekommen die Patienten gerne Pudding verabreicht. „Das geht schneller als Brote schmieren. Zu zweit sind wir für 30 Patienten zuständig.“

Die zwei Kolleginnen sollten diese 30 Menschen mobilisieren – das bleibt auf der Strecke. „Alleine schaffst Du das schon wegen des Gewichts oft gar nicht“, weiß Erika. Patienten- und Angehörigengespräche? Die machen zusätzlichen Stress, weil die Zeit hinterher woanders fehlt. Dann werden Maßnahmen in die Patientenkarteien eingetragen, die gar nicht erfolgt sind. „Völlig üblich“, sagt Erika. „Ich bin wirklich gewissenhaft, aber auch mir passiert es immer wieder, dass ich einen Patienten auf der Toilette vergesse.“

Statt der gesetzlich vorgeschriebenen Pause, die zwar dokumentiert, aber nicht genommen wird, füllt Erika die Tablettenschalen für morgen. So wirklich dabei bleiben kann sie aber nicht, immer wieder wird sie weggerufen und muss einen Patienten zur Toilette bringen, einen Tropf wechseln oder eine unangenehme Überraschung beseitigen.

In der Nachtschicht bietet sich ein ähnliches Bild. Normalerwiese sollten die Patienten alle zwei Stunden umgelagert werden. „Wir sind froh, wenn wir das zwei Mal pro Nacht schaffen“, erklärt Erika. Nacht-Antibiotika, Kontrollgänge: man kann im Dauerstress so schnell so wichtige Sachen vergessen.

Eine Schwester muss alleine bis zu 40 Patienten „betreuen“. Brennt nebenan der Baum, muss sie die Station verwaist zurücklassen. Schwierige Patienten? „Manchmal fixieren wir sie, wenn sie sonst Gefahr laufen würden, zu stürzen. Ohne richterliche Anordnung. Weil es nicht anders geht.“ Der Kaffee in dem Glas muss inzwischen kalt sein. Erika nimmt sich nicht die Zeit, ihn zu trinken. Sie erzählt weiter vom Nachtdienst.

Was sagt das Gesundheitsministerium (im Bild Ressortchefin Melanie Huml, Bildrechte: Ministerium)? Die Antworten lesen Sie HIER

Wenn weder Früh- noch Spätdienst dazu gekommen sind, die Ein- und Ausfuhrbilanz eines Patienten zu erstellen, dann schätzt die Nachtschicht auf Basis der Werte vom Vortag – nur, damit in der Akte etwas drin steht. Ein Schmu, der die Patienten teuer zu stehen kommen kann.

Dass in dieser Situation von Gesprächen mit Sterbenden, besonderer Körperpflege, Fußpflege und kleinen Höflichkeiten nur geträumt werden kann, macht Erika wütend. „Das wollen meine Kolleginnen und ich den Menschen gerne geben, aber wir werden behandelt wie Nutzvieh im Stall“, schimpft sie.

Erika ist alleinerziehend, organisiert ihr Berufsleben mit Hilfe der Oma, die im selben Haus wohnt. Anders würde es nicht gehen. Aus Angst um den Job hat sie Jahre lang geschwiegen. „Die Situation ist immer unhaltbarer geworden“, sagt sie. Nun ist das Maß voll für Erika. Sich wieder versetzen lassen oder in einer anderen Klinik bewerben, hat auch keinen Sinn. Wir müssen gemeinsam was ändern. Deshalb arbeitet Sie jetzt aktiv bei der Gewerkschaft mit, ein Betriebsrat ist in der Vorbereitung. Sie will, dass unsere Leser „einfach mal mitkriegen, was sich in Wirklichkeit im Krankenhaus abspielt“.

Geld für mehr Pflegekräfte wäre genügend vorhanden, davon ist sie überzeugt. Rekord-Überschüsse bei den Krankenkassen, Privat-Unternehmen mit teuerem Management und Aktien-Kursen sowie eingefrorene Arbeitgeber-Beiträge, dazu Zuzahlungen an allen Ecken und Enden: „Es geht nicht darum, den Standort Deutschland zu sichern, sondern darum, eine kleine reiche Clique immer noch reicher zu machen - auf Kosten der Gesundheit und des Lebens von Millionen Kassenpatienten“, ist sich Erika sicher. Am 17. Juni war sie daher  bei der großen Pflege-Demo in Regensburg. Und sie hat schon drei ihrer Kolleginnen davon überzeugen können, ebenfalls mitzukommen.

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